Als ich 13 war machte unser Bio-Lehrer mit uns ein Experiment. Er wollte demonstrieren, wie sich unsere Pupillen in der Dunkelheit erweitern. Er ließ die Jalusien herunter und schaltete das Licht aus. Plötzlich war es stockfinster und wir konnten nichts mehr sehen. Die nächsten Minuten waren schrecklich. Ich hatte panische Angst. Ich hatte ein Feuerzeug in der Tasche und hielt es fest umklammert. Mein einziger Gedanke war: „Ich kann Licht machen. Ich kann Licht machen…“
Meine Klassenkameraden um mich herum verhielten sich entspannt. Sie machten Scherze, lachten und wirkten unbeschwert. Heute denke ich, dass es einigen von ihnen wahrscheinlich ähnlich wie mir erging, aber davon bekam ich in dem Moment nichts mit. Damals hielt ich mich eigentlich für mutig und stark, aber dieses Erlebnis erschütterte mich tief. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es war, als die Schulstunde zuende war und wir den Raum verließen. Ich war verstört und sagte kein Wort. Es war, als ob ich neben mir ginge. Alles fühlte sich fremd und irreal an.
Hätte mir damals jemand glaubwürdig vorhergesagt, dass ich einige Jahre später im Alter von 24 Jahren plötzlich erblinden würde, hätte ich wahrscheinlich hysterisch gelacht und mit der Planung meines Suizids begonnen. Wenn man dieses traumatische Schulerlebnis bedenkt, kann man sich eigentlich nur wundern, wie gut ich später mit dem einhundertprozentigen Verlust meines Augenlichts zurecht kam.
Unfreiwillig in der Dunkelheit
Wenn aus gesunder Vorsicht Angst wird: Die übersteigerte, irrationale Furcht vor dem Unbekannten, dem Unsichtbaren, dem Gefühl des Ausgeliefertsein, des Kontrollverlusts in der Dunkelheit ist auch unter den Namen „Nyktophobie“ (Nyktos – Nacht), Skotophobie (Skotos – Dunkelheit), Lygophobie (Lyge – Zwielicht) oder Achluophobie (Achlys – Nebel) bekannt. Dass Kinder vorübergehend unter ihr leiden ist sinnvoll, da sie so lernen, mit der Dunkelheit umzugehen und Respekt vor ihr zu haben. Aber auch unter Jugendlichen und Erwachsenen ist diese Phobie noch weit verbreitet.
Obwohl eine gewisse Dunkelangst natürlich und sinnvoll ist, kann sie zu einem Problem werden, wenn sie aus den Fugen gerät und sich verselbstständigt. Dann ängstigen sich Betroffene beispielsweise übermässig, wenn sie nachts alleine sind oder in fremder Umgebung übernachten. Sobald die Sonne untergeht und es dunkel wird, werden sie nervös. Die Atmung beschleunigt sich, das Herz schlägt schneller, der Mund wird trocken, die Achseln feucht und die Augen groß. 😟😨😱😰😖😦⚠🌙
Die Melange aus inneren Bildern und Fantasien, mit der Leute wie ich, Licht aus, Film ab, das Nichts der Dunkelheit ausfüllen.
Der Schattenmann
Auszug aus einem Artikel von Christiane Grefe, 2002 veröffentlicht auf Zeit.de:
Jedes Kind kennt das Gefühl, wenn man ganz starr wird vor Angst im Dunkeln. Manche Erwachsene haben diese Angst noch immer.
Wie der Mann aussah, der unter meinem Bett lauerte, wusste ich genau. Aus einem Kinderbuch. Eine Zeit lang lag ich als kleines Mädchen praktisch jede Nacht in hellem Alarm, stocksteif und mit heißem Gesicht. Unruhig suchten die wachen, zugleich wie erblindeten Augen die Finsternis meines Zimmers nach den Konturen vertrauter Gegenstände ab. Doch mit wachsendem Horror entdeckte ich nur, dass sich der Spalt der leicht geöffneten Tür gerade ein wenig verkleinert hatte.
Atemlos starrte ich auf dieses einzige Quäntchen Helligkeit. Da, schon wieder bewegte sich der Lichtstreifen. Eindeutig. Oder doch nicht? Aber wenn ich jetzt aus dem Bett steige, um zu den Eltern zu fliehen, dachte ich, dann wird dieser gefährliche, stoppelbärtige Räuber unter meinem Bett sofort brutal meine Beine wegziehen. Sollte ich unerwartet verschont bleiben, dann nur, weil er heute vor meinem Fenster auf der Lauer liegt. Im Herbstwind höre ich ihn deutlich rascheln und auch schon leise an der Jalousie rütteln, die er gleich nach oben schieben wird. Oder hockt er längst hinter dem Geländer der endlos sich ins untere Stockwerk windenden Treppe? Das dunkle Stiegenhaus. Wenn man sich hinabwagte, natürlich auf Zehenspitzen, dann wurde es erst richtig schaurig.
Bis heute ist mir jede Station auf der Strecke zum elterlichen Schlafzimmer ins Gedächtnis gebrannt: der Hausflur mit zitternden Schatten, die das milchige Licht der Straßenlaterne warf. Türen, die sich jederzeit öffnen konnten. Der eiskalte Boden in einem tiefen Gang, der sich immer mehr verfinsterte. Mittendrin ein wallender Vorhang, welches Dunkel mochte er erst verhüllen! Unmöglich, diesen Weg des Grauens hinter mich zu bringen. Einfach liegen bleiben konnte ich aber auch nicht.
Ich war in der Falle. Bis zur Gnade der Morgendämmerung. Dieses Kind in mir ist nie ganz erwachsen geworden. Besonders in fremden Wohnungen und Hotels zittre ich noch heute. Dass die Bedrohung nicht mehr wie der Bilderbuchräuber aussieht, mildert die Angst kaum.
Die längste Nacht meines Lebens durchlitt ich bei Freunden in einem Landhaus in Illinois. Zwischen Maisfeldern bis zum Horizont herrschte eine Dunkelheit, wie sie Bewohner künstlich illuminierter Städte gar nicht mehr kennen. Durch eine nie vernommene Stille schien sich diese Nachtschwärze noch zu verfinstern. Welch wundervolles Naturerlebnis – für andere. Mein Herz pochte lärmend, im Kopf nur noch der eine Gedanke: an das dunkelste Dunkel in der Gruft.
Vollständiger Artikel auf Zeit.de
Die dunkle Seite der Nacht
Auszüge aus einem Text von Yvonne Eisenring, veröffentlicht auf Annabelle.ch:
Ich war damals fünf und ein zufriedenes, unbekümmertes Kind. Tagsüber jedenfalls. Wurde es Abend und, wie meine Mutter entschied, «höchste Zeit, ins Bett zu gehen», fing der Horror an. Kaum war es dunkel und ich allein im Zimmer, kletterte der böse Mann die Hauswand hinauf (wir wohnten im fünften Stock, aber das ist ein Detail). Er stieg durchs Fenster (es war meist geschlossen, aber das ist ein Detail), schlich zu meinem Bett, sah meine Füsse unter der Decke hervorlugen, und zack, hackte er sie ab. […]
Etwas ist [bis heute] geblieben: die Angst vor dem Dunkeln.
Bin ich allein zuhause, lasse ich nachts im Bad das Licht an. Schlecht für mein Öko-Karma, ich weiss. Aber was soll ich machen? Nachts muss man andere Prioritäten setzen. Hilft das Licht nicht, liege ich wach im Bett. Bei jedem Geräusch zucke ich zusammen. Dass ich stark kurzsichtig bin, macht die Sache nicht besser. Mit minus 5.5 Dioptrien wird ein verschwommener Kleiderständer schnell zu einer unheimlichen Gestalt. Aber nicht was ich sehe noch was ich höre, raubt mir den Schlaf. Meine Fantasie ist viel schlimmer. Kein Gedanke ist zu absurd, keine Vorstellung zu brutal für mich.
In der Dunkelheit würde sich das magische Denken entfalten, sagen Psychologen. Für Kinder ist die Angst vor der Dunkelheit – Achluophobie wird sie genannt – «wichtig für die Entwicklung». Die meisten würden diese Angstform mit dem Älterwerden überwinden. Schön, ich nicht. Woher meine Angst kommt, ist mir ein Rätsel. Ich wurde nie überfallen. Bei mir wurde nie eingebrochen. Ich kann auch von keinem schlimmen Kindheitserlebnis berichten, das jeden Therapeuten wissend nicken lässt. Dass Horrorfilme und Thriller meine Fantasie angekurbelt haben, muss ich mir auch nicht vorwerfen. Aus Prinzip schaue ich nur Komödien und Liebesfilme. Hinzu kommt, dass meine Schwester praktisch kein Problem mit der Dunkelheit hat. Genetisch bedingt ist das also nicht. […]
Letzte Woche fuhr mein Freund für zwei Tage ins Ausland. Ich traf zwei Kolleginnen und erzählte, dass ich das immer sehr blöd fände. «Jöö, bist du herzig.» – «Nenei, nicht vor lauter Sehnsucht. Ich schlafe so schlecht, weil ich Angst habe, nachts allein zuhause.» Wie das so ist, bekam ich vorerst nur plumpe «Das kennt doch jeder»-Sätze zu hören. Sie würden auch nur ungern allein durch den Wald spazieren, wenn es schon dunkel ist. Ich musste lachen. Nachts allein durch den Wald ist für mich keine Frage der Präferenz. Es ist schlicht keine Option. […]
Mit der Zeit kamen erstaunlicherweise auch handfeste Ratschläge. Ich müsse vor dem Zubettgehen alle Schränke und Betten kontrollieren, das würde sie auch immer machen, sagte eine der beiden. Die andere gab zu, im Gang immer ein kleines Lämpchen brennen zu lassen. Und wenn sie nachts aufs WC müsse, gehe sie doppelt so schnell wie tagsüber.
Am nächsten Morgen – natürlich schlief ich schlecht – fragte ich einen Kollegen, ob er ebenfalls nächtliche Sicherheitsvorkehrungen treffe, wenn er allein zuhause ist. Tut er! Er würde immer die Türen so energisch aufmachen, dass sie an die Wand knallen. Einfach für den Fall, dass ein Einbrecher dahinter steht. Und was, wenn die Tür tatsächlich mal auf Widerstand stösst? «Dann würde ich sofort ohnmächtig!» Aber seine Vorstellung sei eh nur ein Hirngespinst.
Das sagte auch die Kollegin, die gestand, immer hinter den Duschvorhang zu schauen, wenn sie spätabends ins Badzimmer gehe. Dass noch nie von einem Fall berichtet wurde, wo der Räuber in der Wanne wartete, sei ihr bewusst. Sie macht es trotzdem. Irgendwie beruhigte mich das.
Vollständiger Artikel auf Annabelle.ch
Ganz egal, woher die Angst gekommen ist, es ist nun an der Zeit, dass sie wieder geht. … Laufe vor einem Gespenst fort, und es wird dich verfolgen. Gehe auf es zu, und es wird verschwinden.
Was hilft gegen die Dunkelangst?
Heutzutage haben fast alle Menschen stets einen Lichtschalter in der Nähe oder ein Smartphone mit Taschenlampenfunktion dabei. Die Nächte werden von zahlreichen Lichtquellen erhellt. Die meisten Menschen haben daher fast keine Erfahrung mehr damit, ab und zu unfreiwillig im Dunkeln zu sein und nichts oder fast nichts mehr sehen zu können. Und was man nicht kennt, macht besonders viel Angst.
Nyktophobie, Achluophobie, Lygophobie, Skotophobie – wie auch immer man die Angst vor der Dunkelheit nennt, es ist gut zu wissen, woher sie kommt und was man gegen sie tun kann. Die expositions-basierte kognitive Verhaltenstherapie soll besonders gut helfen. Dabei setzt man sich unter therapeutischer Anleitung immer intensiveren Stadien der Dunkelheit aus, reflektiert darüber, entwickelt Verhaltensroutinen und übt Entspannungsstrategien ein. Man lernt, dass von der Dunkelheit selbst keine Gefahr ausgeht.
Auch Geschichten, bei denen es um einen positiven Umgang mit der Dunkelheit geht, helfen, Ängste zu verringern. Der Konsum von Horrorfilmen, Psychothrillern, Gruselgeschichten etc. dagegen ist kontraproduktiv und verstärkt das Angstgefühl. Dieses entsteht im Kopf und wird von erinnerten Bildern und Phantasie genährt.
Siehe auch
- Warum fürchten Menschen sich im Dunkeln? Über eine mächtige Urangst, unsichtbare Monster, kindliche Entwicklung, vorübergehende Blindheit und ein peinliches Gefühl
- Was ist der evolutionäre Sinn der Dunkelangst? Warum sind nächtliche Gefahren ein Dilemma für die menschlichen Instinkte? Welche Risiken gibt es tatsächlich im Dunkeln?
- Gibt es einen Zusammenhang zwischen der allen Menschen bekannten Angst im Dunkeln und speziellem Verhalten gegenüber blinden Menschen? (+Hinweise auf weitere Texte in Arbeit)