Rettung von Deutschlands ältestem Blinden-Waldwanderpfad

Er war der erste seiner Art – dann sollte er sterben. Ein Stück Inklusionsgeschichte ging nach 47 Jahren fast zu Ende.

Im Juni 2020 erfuhr ich, dass der Naturpark Habichtswald plant, die hölzerne Orientierungshilfe auf dem sogenannten Blindenpfad in Kassel abzubauen. Ein Teil wurde bereits entfernt. Auf Nachfrage hin kündigte der Geschäftsführer des Naturparks an, dass auch der Rest der Orientierungshilfe bald entfernt würde. Begründet wurde das mit dem Risiko aufgrund der trockenheitsbedingten Waldschäden und den hohen Kosten für Baumsicherungsmaßnahmen. Mittels einer Petition an den Hessischen Landtag konnte der Komplettabbau aber gerade noch verhindert werden. Nachstehend geht es um meine Petitionsbegründung, Medienberichterstattung, Expertenmeinungen und politische und gesellschaftliche Reaktionen.

Der Weg wurde 1973 als „Waldwander-, Waldlehr- und Gymnastikpfad für Blinde und Sehende“ eröffnet. Er war der erste seiner Art in Deutschland. Sein Begründer erhielt unter anderem auch dafür das Bundesverdienstkreuz. Von der Einrichtung ist seit längerem nur noch das den Weg kennzeichnende und als Orientierungshilfe fungierende Holzgeländer übrig. Als blinder Mensch konnte man bislang auf diesem 2 Kilometer langen Rundweg im Kasseler Habichtswald spazieren gehen, indem man den Blindenstock über das Geländer gleiten ließ. Auf diese Weise war es möglich, dem Weg sicher und entspannt zu folgen und alleine und unabhängig die Waldatmosphäre zu genießen. Das Geländer war aber auch für Menschen mit Sehbehinderung, geschwächter Konstitution, beginnender Demenz und anderen Orientierungsschwierigkeiten hilfreich. Für mich als Blinden hat dieser Weg sehr zur Verbesserung meiner Lebensqualität beigetragen! Viele meiner heutigen Aktivitäten wären ohne ihn nicht denkbar.

Updates

Am 29.07.2020 hatte ich nach einem Tip des Kasseler Bundestagsabgeordneten Timon Gremmels bei Twitter und nach Beratung durch den Landtagsagbeordneten Oliver Ulloth beim Hessischen Landtag eine Petition unter dem Aktenzeichen 01678/20 eingereicht. Diese Petition richtete sich an das für den Landesbetrieb HessenForst zuständige Ministerium und wegen der sozialen Komponente (Inklusion, Barrierefreiheit, Teilhabe, etc.) auch an das Sozialministerium. Ziel der Petition war die Klärung der strittigen Haftungsfrage und tatsächlich geltenden Verkehrssicherungspflicht.

Am 18.08.2020 fand eine öffentliche Sitzung des Behindertenbeirats der Stadt Kassel statt, bei der neben dem Naturpark-Geschäftsführer auch städtische Bedienstete, Politiker und interessierte Bürger anwesend waren. Es wurde eine aus 17 Personen bestehende Arbeitsgruppe gebildet, die am 02.10.2020 zum ersten Mal zusammentraf.

Am 7.12.2020 beschloss die Kasseler Stadtverordnetenversammlung, dass sich der Magistrat der Stadt Kassel für einen Erhalt des Blindenpfads einsetzen soll. Die Zustimmung erfolgte einstimmig bei Enthaltung der Kasseler Linke und 1 Person der AfD-Fraktion. Über die Antragsvorlage 101.18.1875 wurde bereits am 3.12.2020 im Sozialausschuß diskutiert und abgestimmt. Zitate aus einem ausführlichen Bericht über die Diskussion: „Die Bürgermeisterin erklärt, sie begleite Inklusion seit Jahren und unterstütze den Blindenpfad.“ Die SPD-Fraktion sagte u.a.: „Zudem sei mit dem Abbau des Blindenpfads begonnen worden, bevor der Behindertenbeirat einbezogen worden sei. Das sei Beteiligungspolitisch ein enormer Rückschritt“.

Am 20.7.2021 waren bei einem Ortstermin mit dem Petitionsausschuß des Hessischen Landtags sowie Vertretern von Umweltministerium, HessenForst und Naturpark auch Stadtbaurat Christof Nolda, der Bundestagsabgeordnete Timon Gremmels und der Bundestagskanidat Boris Mijatovic anwesend. Das wichtigste Ergebnis war, dass die hölzerne Orientierungshilfe künftig als Wegmarkierung gilt und nicht mehr als „Erholungseinrichtung“. Das ändert die rechtliche Situation entscheidend. Der Weg muss von HessenForst jetzt nur noch wie jeder andere Waldweg behandelt werden. Wegen der Orientierungshilfe müssen keine Bäume gefällt werden, die nicht sowieso hätten gefällt werden müssen. Außerdem hat das Umweltministerium zugesichert, dass das Leitsystem langfristig erhalten bleiben soll. Die derzeit noch vorhandene Beschilderung, die auf den Blindenpfad mit dieser Bezeichnung hinweist, wird vollständig zurückgebaut. Offiziell handelt es sich künftig nur noch um den Rundwanderweg 29 mit ertastbarer Wegmarkierung.

Meinungen von Experten

Der Justitiar der Landesforstverwaltung eines anderen Bundeslandes, Experte für Verkehrssicherungspflicht im Wald, schrieb mir 2020 in einer persönlichen Mail u.a.:

Nach meinem Eindruck teile ich Ihre Einschätzung, dass ein Abbau des Geländers nicht erforderlich ist. Nach meiner Auffassung entsteht eine Verkehrssicherungspflicht im Wald dann, wenn ich Elemente einbringe, die die Waldbesucher zum Verweilen einladen. Dies gilt z.B. für Grillhütten, Erholungseinrichtungen, Sportgeräte (Trimmpfad) und ähnliches. Die Einrichtung des Blindenpfades sehe ich aber in der Tat auch als vergleichbar zu anderen Wegemarkierungen wie z.B. Hinweisschildern zur Richtungsmarkierung. Der Pfad lädt nicht zum Verweilen ein, sondern gibt eine Richtung und einen Streckenverlauf vor. Meiner Meinung nach muss in solchen Bereichen nicht besonders auf die von Bäumen ausgehenden Gefahren geachtet werden.

Der Deutsche Wanderverband (DWV) ist ebenfalls Experte für Verkehrssicherungspflicht auf Waldwegen und berichtete in seiner Verbandszeitschrift „Wanderzeit“ im Dezember 2020 u.a.:

Nach einer Begehung des Geländes empfiehlt der DWV in einem Brief an den Petitionsausschuss des LandesHessen den Erhalt des Pfades als wichtiges Wanderangebot. Dem Argument des Naturparkes, eine erhöhte Verkehrssicherungspflicht erfordere dessen Rückbau, hält der DWV entgegen, dass für natur- und waldtypische Gefahren grundsätzlich keine Verkehrssicherungspflicht bestehe, woran auch eine Orientierungshilfe nichts Wesentliches ändere. Hier sei lediglich die technische Sicherheit zu gewährleisten, was angesichts zahlreicher Fördermöglichkeiten für eine solche Infrastruktur vergleichsweise einfach sei.

Weitere Expertenmeinungen von Prof. Dr. jur. Felix Welti und dem DBSV, Spitzenverband der deutschen Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe, sowie mehr über den rechtlichen Sachverhalt kann man in dieser juristischen Argumentation nachlesen.

Politische Reaktionen

Auszug aus einer Pressemitteilung der SPD Fraktion Kassel vom 27.08.2020:
„Für die SPD-Fraktion ist die Frage zentral, wie wir den Blindenpfad retten, vielleicht sogar ausbauen können. Denn neben blinden Menschen ist der Pfad auch für andere Bevölkerungsgruppen unentbehrlich – u.a. für Menschen mit beginnender Demenz oder für Kinder mit z.B. Sehbeeinträchtigungen oder sozial-emotionaler Belastung. Letzteren gibt der mit Geländern versehene Pfad Orientierung und eröffnet so die Chance, den Wald ohne Angst zu erleben. „Der Pfad ist gefragt und gern genutzt. Das Argument des unwirtschaftlichen Aufwand-Nutzen-Verhältnisses greift also nicht“, findet der integrationspolitische Sprecher Norbert Sprafke. „Es stößt bei uns in der SPD-Fraktion auf absolutes Unverständnis, dass jetzt der erste inklusive Wanderpfad Deutschlands abgebaut wird“.“

Am 12.08.2020 berichtete die HNA:
„Mit Bedauern reagiert der FDP-Bundestagsabgeordnete Matthias Nölke auf die vom Naturpark Habichtswald beschlossene Schließung des Kasseler Blindenpfades. Dies sei eine „traurige Entscheidung“, die Teilhabe von Blinden an der Natur werde dadurch eingeschränkt. Alle Beteiligten sollten nach Nölkes Ansicht zu einem Runden Tisch zusammenkommen und eine Möglichkeit suchen, wie der Pfad erhalten werden kann. Gefragt sei auch der Magistrat der Stadt. Er habe die finanziellen Möglichkeiten, die Teilhabe von Blinden am Naturpark weiter zu ermöglichen, meinte Nölke, der auch Stadtverordneter in Kassel ist.“

Die Kasseler Grünen reagierten auf die konstruktiven Stellungnahmen der anderen Parteien mit Pressemitteilungen, in denen sie nur die Argumentation von HessenForst und Naturpark vertraten, ohne auf die zahlreichen Gegenargumente und juristischen Fakten einzugehen. Sie wussten zu diesem Zeitpunkt nämlich weder etwas von der eingereichten Petition noch über die Inhalte dieser Webseite.
* Pressemitteilung der umweltpolitischen Sprecherin der Grünen Rathausfraktion
* HNA-Artikel vom 8.9.2020, in dem sich der Stadtbaurat Christof Nolda von den Grünen gegen den Erhalt des Blindenpfades ausspricht.
* Am 10.9.2020 sagte Christof Nolda in diesem HR-Fernsehbeitrag:

Der Unterschied ist, wenn jemand in den Wald geht, hat er grundsätzlich mit dieser Gefahr zu rechnen. Es gibt die Nachrichten und die Mitteilungen darüber, dass die Gefahren im Wald größer sind, als sie noch vor 5 Jahren waren. Das ist allen bekannt.
Wenn wir aber mit besonderen Einrichtungen, also einer Geländereinrichtung, Menschen in den Wald führen, dann haben wir an dieser Stelle eine wesentlich höhere Verantwortung als wenn Leute einfach aus freien Willen in den Wald gehen. Dieser höhheren Verantwortung werden wir gerecht und müssen daraus Konsequenzen ziehen.

Beschluss des Ortsbeirats Harleshausen vom 21.9.2020:
„Der Ortsbeirat Harleshausen fordert den Magistrat der Stadt Kassel und die Stadtverordneten auf, sich für den Erhalt des bestehenden Blindenpfades im Naturpark Habichtswald einzusetzen. Dabei sollte die Stadt Kassel ihren Einfluss in der Verbandsversammlung des Zweckverbands Naturpark Habichtswald geltend machen…“

Gesellschaftliche Reaktionen

Stellungnahme des Bürgervereins vom 13.08.2020:
„Der Vorstand des Bürgervereins Kassel-Harleshausen lehnt den Abbau des Blindenpfads ab und setzt sich stattdessen für einen Ausbau der bisherigen Geländer als Leit- und Gehhilfe auch für Sehende ein. In den letzten Jahren hatten sich ältere Menschen aus dem Stadtteil wiederholt darüber beschwert, dass die zuletzt angebrachten Leitgeländer für Blindenstöcke derart niedrig seien, dass man sie nicht als Geländer zum Festhalten nutzen konnte. Der Blindenpfad wurde bis dahin auch von sehenden Menschen genutzt, die sich ansonsten nur sehr unsicher im Wald bewegen konnten. Durch den Wegfall der Geländer in greifbarer Höhe wurde älteren Menschen eine einzigartige Gelegenheit genommen, sich im Wald sicher zu bewegen.“

Am 17.08.2020 erschien in der FAZ ein Artikel unter der Überschrift:
Haftungsdilemma in Kassel: Wie der Klimawandel einen Blindenpfad gefährdet

Auszug aus dem Brief einer Lehrerin einer Grundschule:
„Wir sind eine „Draussen- und Umweltschule“. D.h., dass 10 Schulklassen einmal wöchentlich für einen ganzen Schulvormittag den Habichtswald als „außerschulischen Lernort“ nutzen. Der Habichtswald ist für uns Wandergebiet, Lern- und Erholungsort. Unsere Schule wird von einer bunten Mischung von Kindern besucht; u.a. auch Kinder aus Flüchtlingsregionen (teilweise traumatisiert) oder inklusive beschulte Kinder, die durch Hör- und Sehbeeinträchtigungen oder sozial-emotional belastet sind. All diese Kinder brauchen gerade in der heutigen Zeit, u.a. auch um den Wald angstfrei nutzen zu können, eine besondere Orientierung. Dazu eignet sich der Blindenpfad bzw. die Orientierungshilfe nahezu perfekt. […]
Aus unserer Sicht ist es sehr schade, dass der Weg umgestaltet wird und sich deshalb unsere Nutzung zumindest schwieriger darstellt. Der Orientierungshandlauf des Blindenpfads ist für unsere Schulklassen absolut wichtig. Es ist eine Möglichkeit, inklusiv denken zu lernen, quasi im Vorbeigehen. Das sollte doch eher erhalten bleiben, als in Frage gestellt zu werden. Wir hoffen darauf, dass der Abriss gestoppt werden kann und die Wiederherstellung dieser sinnvollen Hilfe beginnen kann.“

Auszug aus einem Brief der Eltern eines blinden Jugendlichen:
„Der Zweckverband Naturpark Habichtswald hat auf Druck des Hessenforstes bzw. durch deren Hinweis auf die erhöhte Verkehrssicherungspflicht beschlossen, den Blindenpfad und die Orientierungshilfe ( das Geländer rund um den Blindenpfad ) abzubauen. Der Zweckverband begründet das damit, dass dieses Geländer eine bauliche Veränderung durch Dritte sei, mit der eine wahrnehmbare erhöhte Sicherheit suggeriert wird und somit für den Zweckverband eine erhöhte Verkehrssicherungspflicht gilt und vor allem eine damit verbundene Haftung des Zweckverbandes für die Gefahren des Waldes gegenüber Benutzern des Blindenpfades einhergeht. […]
Wir sind der Auffassung, dass es sich bei der Orientierungshilfe lediglich um eine Möglichkeit handelt, dass Blinde, Sehbehinderte und andere Menschen, die mit der einfachen Orientierung Schwierigkeiten haben, den inzwischen zum Wanderweg Nr. 29 umgewandelten Blindenpfad barrierefrei und selbstständig nutzen können. Die Annahme und die daraus resultierende und immer wieder benutzte Argumentation, dass die Nutzungsintensität der Orientierungshilfe sich eigentlich bei nahezu null bewegt, ist schlicht falsch. Das Argument dieser Blindenpfad als solches wird nur noch von einer Person benutzt und deshalb stünde der Aufwand in keiner Relation zur Nutzung, wird vehement bestritten. Menschen mit Sehbehinderung ist diese schlichtweg nicht anzusehen. Uns sind mehrere Personenkreise ( Schulen, Sehbehinderte & Menschen mit grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Orientierung ) bekannt, die diesen Weg durch das Leitsystem angstfrei nutzen können.“

Persönliches

Am 30.07.2020 erschien in der HNA ein Artikel, in dem sich der Naturpark-Geschäftsführer Jürgen Depenbrock wie folgt auf mich bezieht.
Zitat: „Letztlich gibt es noch eine blinde Person, die in fußläufiger Entfernung wohnt, durchaus aber in der Lage ist, den Weg auch ohne das Geländer zu laufen.“
Das ist nicht wahr. Der überwiegende Teil des Wegs wird für mich ohne die Orientierungshilfe künftig aufgrund von Herbstlaub, Matsch, Schnee oder Eis an vielen Tagen nicht mehr begehbar sein, und dass, obwohl ich mich auf vielen anderen Waldwegen ansonsten gut orientieren kann. Ich werde bei entsprechend schlechten Bedingungen auch nicht mehr in der Lage sein, die von mir 2012 gesponserte Bank am Geilebach aufzusuchen. Da das hölzerne Leitsystem schon seit längerem größere Lücken aufweist, konnten andere, in der Nähe wohnende Blinde den Weg in den letzten Jahren übrigens gar nicht ausprobieren. Und nochmal zur Erinnerung: Das Geländer ist auch für Menschen mit Sehbehinderung, geschwächter Konstitution, beginnender Demenz und anderen Orientierungsschwierigkeiten hilfreich.

Ich werde künftig trotzdem versuchen, diesen direkt am Waldrand gelegenen Weg zu gehen, so wie ich es die letzten 20 Jahre gemacht habe, auch wenn es ohne die Orientierungshilfe nun wesentlich schwieriger und auch gefährlicher ist. Mir bleibt gar keine andere Wahl, wenn ich weiterhin in den Wald will.

Mehr zu Geschichte, Zweck und Nutzen des Blindenleitsystems und ein persönlicher Kommentar von mir: https://harleswald.de/blindenpfad
Mein Twitter-Account auf https://twitter.com/harleswald zeigt, dass ich mich intensiv mit dem Thema „Menschen im Wald“, Forstwirtschaft und zugehörigen Wissenschaften beschäftige. Viele meiner Twitter-Follower sind Wald- und Forstprofis.

Begründung meiner Petition

Aussagen des Naturpark-Geschäftsführers und meine Anmerkungen dazu

Wir haben als Zweckverband die abgesprochene Strategie verfolgt, trotz einem absolut unwirtschaftlichen Aufwand-Nutzen-Verhältnis, das Geländer nach Verfügbarkeit von Geld und personellen Ressourcen so gut wie möglich instand zu halten. Trotz stetiger Zunahme anderer, wirklich wichtiger Aufgaben des Naturpark-Betriebshofs mit deutlich größerem Mehrwert für die Naturparkbesucher haben wir uns bis dato kontinuierlich in der vereinbarten Weise engagiert.

Das stimmte bis Ende 2017. Was die fehlenden Ressourcen betrifft, stimme ich auch absolut zu. Aber warum wurde jegliches Engagement Dritter verhindert und sich nicht um Förderung aus entsprechenden Quellen bemüht (Inklusion, Barrierefreiheit, Teilhabe, etc.)?

Mittlerweile ergibt sich für den Zweckverband ein Problem, das dramatische Auswirkungen auf die gesamte Infrastruktur des Naturparks (Bänke, Infotafeln, Wassertretstellen, Brücken …) hat. Aufgrund des durch Trockenheit und Hitze der Jahre 2018 und 2019 (und in Ansätzen auch schon 2020) bedingten, fortschreitenden Waldsterbens, insb. von Fichten und Rotbuchen, hat sich das Gefahrenpotential im Wald exponentiell erhöht. Waldbesitzer des Staats-, Privat- oder Kommunalwaldes fordern von uns mittlerweile aus diesem Grund Gestattungsverträge, in denen die Verpflichtung des Naturparks zur Übernahme der Verkehrssicherheitsverantwortung für dessen Infrastruktur explizit dokumentiert wird.

Das stimmt leider und trifft auf sehr viele Wälder in Deutschland zu. Es gibt allerdings verschiedene Vorgehensweisen. In Niedersachsen hat man beispielsweise komplette Waldgebiete gesperrt, so wie es in einem begrenzten Bereich in Kassel bei der Hessenschanze vorübergehend auch gemacht wurde. Woanders weist man Waldbesucher lediglich auf das stark gestiegene Risiko hin und genügt so der Verkehrssicherungspflicht. Wenn man absolut sicher sein wollte, müsste man überall in Deutschland ziemlich viele Waldwege sperren, aber das ist natürlich nicht realistisch. Schließlich gibt es bei uns ein allgemeines Waldbetretungsrecht.

Demnach ist der Zweckverband – bei deutlich erhöhtem Gefahrenpotential – für jegliche Strukturen, die er im Wald installiert, an denen sich Menschen aufhalten und in deren sicheren Zustand sie vertrauen, verkehrssicherheitstechnisch verantwortlich und rechtlich haftbar. Für den Blindenpfad bedeutet dies konkret, dass wir jederzeit sicherstellen müssten, dass (blinde) Menschen, die dem Geländer vertrauen, unbeschadet den Weg begehen können. Und dies nicht nur hinsichtlich des Geländers sondern auch bzgl. einer Gefährdung durch herausbrechende trockene Kronen / Totäste, deren Gefahrenpotential von blinden Menschen nicht wahrgenommen werden kann.

Juristisch scheint das auf den ersten Blick eine sichere Argumentation zu sein. Menschenleben dürfen nicht gefährdet werden. Wenn das Waldgebiet beim Blindenpfad aber so gefährlich ist, was ist dann mit allen anderen Spaziergängern? Senioren, Kinder, unaufmerksame Besucher, etc.? Sind die nicht gefährdet? Müsste man nicht eigentlich alle potentiell gefährlichen Wege überall im Wald für alle sperren?

Herabfallende Baumteile hört ein Blinder genau so gut wie ein Sehender, vielleicht sogar noch besser, weil er mehr darauf achtet. Und wenn er gerade darunter steht, fallen die ihm natürlich auf den Kopf, genau wie sehenden Spaziergängern auch. Niemand kann in so einer Situation schnell genug weglaufen. Und welche Waldbesucher sind schon in der Lage, das Gefahrenpotential möglicherweise gleich herunterfallender Baumteile weit über ihnen zu erkennen? Wohl so gut wie niemand.

Eine Orientierungshilfe ermöglicht es manchen Menschen überhaupt erst, einen Weg zu benutzen. Sie ist eine Wegmarkierung und gehört zum Weg. Sie verbessert die Barrierefreiheit und erfüllt die gleiche Funktion wie Blindenleitsysteme im öffentlichen Raum. Sie ist keine „Erholungseinrichtung“ und auch keine „installierte Struktur, an der sich Menschen aufhalten“. Menschen vertrauen darauf, dass ein Weg sicher ist. Wenn der Weg nicht sicher genug ist, muss er für alle gesperrt werden, nicht nur faktisch für eine einzige Personengruppe.

Orientierungsbenachteiligten Menschen das Betreten des Waldes durch den Abbau des Leitsystems zusätzlich zu erschweren, stellt eine Ungleichbehandlung im Sinne von Artikel 3, Absatz 3, Satz 2 des Grundgesetzes dar. Hinter der Rückbaubegründung steckt ein auf Fehlannahmen basierender, überbordender Fürsorgegedanke. Das Ergebnis ist benachteiligend, bevormundend und diskriminierend. Sehende können nur selten beurteilen, was Blinde können und was nicht.

Der komplette Blinden-Waldwanderpfad ist übrigens auch als normaler Rundwanderweg Nr. 29 ausgewiesen, worauf Beschilderung und Baummarkierungen hinweisen. Laut einem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs von 2012 besteht aber keine Verkehrssicherungspflicht für waldtypische Gefahren auf Waldwegen. Dabei ist es sogar egal, wie stark frequentiert ein Waldweg ist und ob er beworben wird, z.B. als Premium-Wanderweg. Mit waldtypischen Gefahren müssen Waldbesucher stets, also auch auf Wegen rechnen, nicht aber an vom Waldbesitzer geschaffenen Orten zum Verweilen. Eine Orientierungshilfe bzw. ein Leitsystem dient aber der Fortbewegung und nicht dem Verweilen. Zitat: „Zu berücksichtigen ist jedoch, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar.“ Mehr dazu im kompletten BGH-Urteil

Anmerkung: In der Rechtsprechung zur Verkehrssicherungspflicht im Wald taucht manchmal der Begriff „Geländer“ auf. So wird auch das Leitsystem auf dem Blindenpfad oft bezeichnet. Es handelt sich dabei aber nicht um einen Handlauf zum Abstützen und auch nicht um die Absicherung vor einer Gefahr auf der anderen Seite des Geländers. Die Holzkonstruktion ist überwiegend kniehoch und lediglich eine wegebauliche Ergänzung zur Unterstützung orientierungsbenachteiligter Waldbesucher. Sie ist eine Wegmarkierung und macht Weg und Wald barrierefreier. Von ihr selbst darf natürlich keine Gefahr ausgehen, z.B. durch herausragende Nägel. Sie muss also in Ordnung gehalten werden.

HessenForst wird dem Naturpark das betreffende Waldstück aufgrund der Waldschadenssituation nur noch zur Verfügung stellen, wenn wir die komplette Verantwortung für die Verkehrssicherheit vertraglich übernehmen. Die regelmäßige fachliche Kontrolle des Baumbestandes inkl. rechtssicherer Dokumentation an dem 2,3 km langen Pfad sowie die Durchführung  notwendiger Pflegemaßnahmen (z.B. Hubsteigerarbeiten in den Baumkronen) auf eigene Kosten wären Teil der Vereinbarung. Unter diesen Bedingungen und mit den dem Naturpark zur Verfügung stehenden finanziellen und personellen Kapazitäten ist – speziell bei Berücksichtigung des grenzwertigen Aufwand-Nutzen-Verhältnisses – die Unterhaltung des Blindenpfad-Geländers leider nicht länger vertretbar.

Und wieder die Frage: Wenn es für Blinde dort angeblich zu gefährlich ist, wieso dann nicht auch für alle anderen Nutzergruppen? Müsste dieser Weg nicht eigentlich für alle gesperrt werden, wenn der Naturpark aus verständlichen Gründen nicht in der Lage ist, die Sicherheit zu gewährleisten? Was hat das Geländer damit zu tun, das momentan nur noch abschnittsweise existiert und daher sowieso keine „Sicherheit“ suggeriert?

Momentan hat das noch verbliebende Leitsystem gar keine Verbindung zu den Wegen, auf denen blinde Menschen sich sicher mit ihrem Blindenstock bewegen können. Die allermeisten Blinden können die Orientierungshilfe mitten im Wald zurzeit also gar nicht benutzen. Das restliche Geländer hat auch noch einen hohen finanziellen Wert. Warum soll der unnötig vernichtet werden? Das verbaut jede Chance auf eine mögliche sponsorenunterstützte Instandsetzung in der Zukunft, wenn sich die Gefahrenlage wieder beruhigt hat.

Was ist eine taktile Orientierungshilfe und was ist sie nicht?

Über alternative Wegmarkierungen, das Zwei-Sinne Prinzip, Verkehrssicherungspflicht, Baumsicherung, Megabaumgefahren, Barrierefreiheit im öffentlichen Freiraum und die DIN 18040-3. Bitte lesen: https://harleswald.de/blindenpfad/orientierungshilfe/

Kompromissvorschlag

In einigen Jahren wird das momentan erhöhte Risiko im Wald wieder geringer sein, aber das Leitsystem wird es nach einem Komplettabbau nicht mehr geben. Würde es nicht genügen, alle Schilder und Hinweise auf einen „offiziellen Blindenweg“ vorübergehend zu entfernen und auf jegliche Bewerbung zu verzichten?

Dann könnte niemand mehr irrtümlich annehmen, dass dieser Weg besonders sicher sei und es gäbe definitiv keine erhöhte Verkehrssicherungspflicht. Das restliche Geländer könnte man erklärungslos stehen lassen. Wenn die Gefahrenlage in einigen Jahren wieder normal ist, könnte man den Rundwanderweg 29 dann auch wieder „Blindenpfad“ nennen. Mir ist der Name egal, wenn das Leitsystem bleiben kann!

Fazit

Das Geländer komplett abzubauen und Deutschlands ersten Blinden-Waldwanderpfad so nach 47 Jahren zu beerdigen, scheint eine unverhältnismäßige Reaktion zu sein, mit der eine einzelne Personengruppe benachteiligt und bevormundet wird. Das ist diskriminierend. Diese Einschätzung wird auch von Juristen geteilt.

Die Orientierungshilfe ist eine Wegmarkierung und gehört zum Weg. Sie verbessert die Barrierefreiheit. Ihre Existenz begründet keine erhöhte Verkehrssicherungspflicht und auch keine besondere Baumsicherungspflicht. Wegen ihr müssen keine Bäume gefällt werden, die nicht sowieso gefällt werden müssten. Es gibt keinen Grund für HessenForst , einen speziellen Gestattungsvertrag vom Naturpark zu fordern.

Es ist verständlich, dass der Naturpark nicht über genügend Personal und Finanzen verfügt, um den Weg für eine kleine Gruppe behinderter und älterer Menschen und jene, die Angst haben, sich im Wald zu verlaufen, mit eigenen Mitteln erhalten zu können. Für so etwas kann man aber Förderungen beantragen. Es muss auch noch erwähnt werden, dass HessenForst schon länger an der Beseitigung des Geländers interessiert ist, weil es bei Baumfällarbeiten stört und die Benutzung großer Forstmaschinen behindert. Inoffiziell wird dies auch von Forstamtsmitarbeitern bestätigt.

Kontakt

Ich freue mich über Hinweise, Verbesserungsvorschläge, Unterstützung, Fragen und Kritik. Wer mich kontaktieren möchte, kann dies via 0561-58554552, reisendermobil (gefolgt von) @googlemail Punkt com, Twitter, Facebook oder das folgende Kontaktformular tun.

Vielen Dank!