Barrierefreie Mobilität weiter denken

Das Recht auf Mobilität

Mobilität ist ein zentraler Aspekt des menschlichen Daseins. Sie ermöglicht es, sich aktiv zu bewegen, Lebensziele zu verfolgen, soziale Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, zur Arbeit zu kommen, Freizeitaktivitäten nachzugehen, zu reisen, sich weiterzubilden und mehr.

Sie ermöglicht Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung und ist ein wichtiger Bestandteil sozialer Inklusion. Mobilität ist eine Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und daher ein Menschenrecht.

Barrieren für die Mobilität

Menschen mit Beeinträchtigungen stoßen im öffentlichen Raum und bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oft auf Barrieren und Probleme, die es ihnen erschweren, sich von A nach B zu bewegen. Barrieren können nicht nur baulicher oder physischer Natur sein, sondern auch den Zugang zu Informationen verhindern. Barrierefreiheit ist also nicht nur für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen wichtig, sondern betrifft auch blinde, sehbehinderte und ältere Menschen, ebenso Personen mit Orientierungs-, Lese- und Verständnisschwierigkeiten.

Bei Mobilitätsbarrieren denkt man meist eher an Stufen oder zu enge Durchgänge, aber weniger an mit Hilfsmitteln nicht bedienbare Apps und Websites, visualisierte Daten, Touchscreens, nicht von allen barrierefrei benutzbare Selbstbedienungsterminals, schlecht lesbare Fahrpläne, unübersichtliche Darstellungen, zu komplizierte Erklärungen oder Probleme bei der räumlichen Orientierung. Apps, Internetseiten, Navigationsgeräte oder Fahrkartenautomaten können das Reisen erleichtern, sind aber oft nicht barrierefrei nutzbar oder zu kompliziert.

Rechtliche Situation

In aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten um eine sozial gerechte Zukunft geht es zunehmend auch um die Themen Mobilität und Verkehr.

Um eine sozial gerechte Mobilität zu gewährleisten, hat sich Deutschland als Unterzeichner der UN-Behindertenrechtskonvention unter anderem auch dazu verpflichtet, den Zugang zu assistiven Technologien und Mobilitätshilfen sicherzustellen. Die Behindertenrechtskonvention verpflichtet die Vertragsstaaten, eine barrierefreie öffentliche Infrastruktur zu schaffen, um Menschen mit Behinderungen die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen.

Das Personenbeförderungsgesetz schreibt seit 2022 eigentlich eine „vollständige Barrierefreiheit für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs“ vor. Es wird aber noch sehr lange dauern, bis dieses Ziel tatsächlich erreicht ist. Ab 2025 tritt nun auch noch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz in Kraft, das viele Anbieter von Produkten und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit verpflichtet. Viele Mobilitätsanbieter werden es aber auch 2025 nicht schaffen, ihre Angebote für alle Menschen barrierefrei zugänglich zu machen.

Eines der Ziele des Fernassistenzprojekts ist, einige der angesprochenen Probleme zu lösen. Ein professioneller Fernassistenzservice könnte Menschen auf Abruf Zugang zu gut ausgebildeten, vertrauenswürdigen Assistent*innen ermöglichen und so unter anderem auch bei der Mobilität unterstützen. Mobilitätsanbieter könnten ihren Kunden mit Beeinträchtigung eventuell die kostenlose Nutzung eines solchen Service ermöglichen und so ihrer zunehmenden gesetzlichen Verpflichtung zur Barrierefreiheit ihrer Produkte und Dienstleistungen nachkommen.

Das Fernassistenzprojekt

Im Fernassistenzprojekt soll die Entwicklung der ersten deutschsprachigen Plattform für professionelle Fernassistenz vorbereitet werden. In englischsprachigen Ländern hat sich diese neue Assistenzform bereits seit einigen Jahren als ein wertvolles Hilfsmittel für die Mobilität von blinden und sehbehinderten Menschen bewährt, könnte aber auch für Senior*innen und Menschen mit Lernschwierigkeiten, Orientierungsproblemen, erhöhtem Sicherheitsbedürfnis oder ungenügenden Fähigkeiten bei der Nutzung von Computern, Smartphones oder anderen technischen Geräten hilfreich sein.

Barrieren mit Fernassistenz überwinden

Mit Fernassistenz können visuelle Informationen und andere, für die Mobilität notwendige Daten, die nicht barrierefrei nutzbar sind, bei Bedarf von gut ausgebildeten und vertrauenswürdigen Fernassistent*innen gezielt und individualisiert in Echtzeit zugänglich gemacht werden.

Die Assistent*innen können auch bei der Orientierung und Navigation in unbekannter oder schwieriger Umgebung sowie bei der Nutzung digitaler Dienste (z.B. Apps, Websites, Buchungssysteme), technischer Einrichtungen (z.B. Displays mit Reiseinformationen) und Selbstbedienungsterminals (z.B. Fahrkartenautomaten) behilflich sein. Viele Menschen benötigen beim Umgang mit solchen Dingen visuelle Unterstützung oder Erklärungen in leicht verständlicher Sprache.

Fernassistenz verbessert auch das Sicherheitsgefühl beim alleine unterwegs sein, da man jederzeit Hilfe bekommen könnte. Fernassistenz in der Tasche zu haben, hilft gegen die Angst beim Gehen unvertrauter Wege und auch, wenn man nachts oder an einsamen Orten unterwegs ist oder sich in riskante Situationen begibt. Angst ist eine Mobilitätsbarriere.

Was ist ein Fernassistenzservice?

  • Ein visueller Dolmetsch- und Informationszugangsdienst.
  • Ein Werkzeug, um Unterstützung bei der Navigation in unbekannter oder schwieriger Umgebung zu erhalten.
  • Ein Werkzeug, um Probleme bei der Nutzung von Websites oder Apps lösen zu können.
  • ein neuartiges Hilfsmittel, das seinen Nutzern mehr Unabhängigkeit, Flexibilität, Effizienz und Selbstwirksamkeit ermöglicht.
  • Ein nach Minuten abgerechneter Service, der Menschen mit Menschen verbindet.
  • Ein kleines Stück Sicherheit in der Tasche.

Wie funktioniert Fernassistenz?

Der Nutzer öffnet die App auf seinem Smartphone oder im Browser.
Eine Assistenzkraft meldet sich über eine Audioverbindung und der Nutzer schildert kurz, welche Unterstützung er braucht.
Die Assistenzkraft kann auf ihrem Bildschirm den Videostream der Kamera des Nutzers sehen und dessen aktuellen Standort auf einer Karte.
Zusätzlich zum Videostream stehen den Assistent*innen weitere Hilfsmittel zur Verfügung.
Bei Bedarf können sie beispielsweise per Fernzugriff auch Zugang zum Computer oder Smartphone der Nutzer bekommen, um dort Dinge zu tun, die für diese selbst nicht barrierefrei möglich sind.
Das persönliche Profil der Kunden enthält Infos über deren bevorzugte Art von Navigationsanweisungen sowie eventuell bereits gespeicherte Kartenausschnitte und Gebäudepläne mit individuellen Markierungen.

Die Fernassistentinnen werden intensiv geschult und zertifiziert, sind vertrauenswürdig, können gut kommunizieren, beschreiben sorgfältig, beachten den Datenschutz, berücksichtigen die individuellen Vorlieben der Nutzerinnen und bieten einen professionellen Kundenservice. Sie vermitteln Informationen, indem sie beschreiben, vorlesen, erklären oder Navigationshinweise geben. Sie sagen, was im Blickfeld der Kamera oder auf einem Bildschirm zu sehen ist.

Fernassistenz als Mobilitätshilfe für blinde und sehbehinderte Menschen

Die Kunden des englischsprachigen Fernassistenzanbieters Aira.io sind überwiegend blinde und sehbehinderte Menschen. Es gibt aber auch anderweitig eingeschränkte Personen, die den Service ebenfalls nutzen.

Bei 15 Prozent von Airas Kundenkontaktn geht es um Orientierung und Navigation in unbekannter oder schwieriger Umgebung. Fernassistenz kann zwar nicht als alleinige Mobilitätshilfe genutzt werden, aber in Kombination mit einem weißen Langstock oder einem Blindenführhund kann sie viele nützliche Informationen liefern. Für eine blinde Person mit Langstock kann ein Aira-Agent ähnliche Dinge tun wie ein Führhund, z.B. Türen, Treppen, Aufzüge, Ampeln, Servicepunkte finden, aber auch Ampelphasen und fahrende Autos ansagen und natürlich die Umgebung beschreiben.

Typische Aufgaben:
Hilfe bei der Orientierung. Wege finden. Freiflächen überqueren. Navigationshinweise bekommen. Umgehung von Baustellen. Kennenlernen und Einüben neuer Routen. Vorlesen von Anzeigetafeln und Aushängen. Umsteigehilfe auf Bahnhöfen und anderen Verkehrsknotenpunkten. Auffinden von Türen und Haltestellen (auch beim Schienenersatzverkehr). Freien oder reservierten Sitzplatz finden. Hilfe bei der Bedienung von Automaten und Terminals. Kennenlernen und verstehen der Bedienelemente eines Geräts. Öffentliche Toiletten finden und vor Benutzung auf Sauberkeit überprüfen. Ein Taxi finden oder sicherstellen, dass der Fahrer einen sieht. Sich an den richtigen Ort lotsen lassen, wenn man von einem Taxi wieder mal an einer falschen Adresse abgesetzt wurde.

Ins Deutsche übersetzte Erfahrungsberichte blinder Aira-Nutzer*innen

Das Inklusionsbarometer Mobilität 2022

Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, schrieb im Vorwort der Mobilitätsstudie der Aktion Mensch unter anderem:

„Wir alle sind darauf angewiesen, so stressfrei wie möglich zur Arbeit, zum Ehrenamt, zu Behörden oder auch mit Freundinnen ins Kino oder in die Kneipe zu kommen. Mobilität ist die Grundlage von Teilhabe in allen Lebensbereichen. Für Menschen mit Behinderungen ist die Situation häufig kompliziert und frustrierend. Da kann etwas, das für andere nur ein kleines Ärgernis ist, schnell zu einer unüberwindbaren Barriere werden.“

Weiterführende Links

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (Bundesfachstelle Barrierefreiheit)
Thema Mobilität (Bundesfachstelle Barrierefreiheit)
Positionspapier des Deutschen Behindertenrates zum Thema Barrierefreier Tourismus (April 2023, PDF)
Mobilität für alle: Wie barrierefrei sind Bus und Bahn? (VCD Bahntest 2023/24, Studie)
Barrierefreiheit im ÖPNV: Warum ein altes Gesetz in Hessen kaum Wirkung zeigt (Hessenschau, Februar 2023)
Vollständige Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr nach dem novellierten Personenbeförderungsgesetz (Agentur Barrierefrei NRW)

** geschrieben von Per Busch, veröffentlicht im April 2023 **