Ich habe zusammen mit anderen ein Projekt gestartet. Wir wollen die Entwicklung einer Plattform für professionelle Fernassistenz vorbereiten und barrierefreie Arbeitsplätze schaffen.
Mittels einer Fernassistenz-App kann man sich einfach und spontan Augen und Sachverstand von vertrauenswürdigen Assistenzkräften leihen. In englischsprachigen Ländern hat sich Fernassistenz bereits seit einigen Jahren als ein wertvolles Hilfsmittel für blinde und sehbehinderte Menschen bewährt, könnte aber auch für Senior*innen und Menschen mit Lernschwierigkeiten, Orientierungsproblemen, erhöhtem Sicherheitsbedürfnis oder ungenügenden Computerkenntnissen hilfreich sein. Diese neuen Möglichkeiten wollen wir erforschen und bekannt machen.
Die Stiftung der Aktion Mensch fördert unsere Projektplanungsphase im Rahmen ihres Programms „Inklusion durch Digitalisierung“ mit €50000. Diese Phase endet am 30. Juni 2023. Die Chancen stehen gut, dass sie auch eine anschließende dreijährige Modellprojektphase mit bis zu €600000 finanzieren werden. Im Sommer 2022 haben wir uns bereits erfolgreich an einer Smart City Crowdfunding-Kampagne der Stadt Kassel beteiligt und bekamen auch einen Sonderpreis. Siehe diese Pressemeldung der Uni Kassel. Wir engagieren uns auch bei Smart Age Mobil.
Das Projektteam besteht momentan im Kern aus Kai Bißbort (PIKSL Labor Kassel), Johannes Sperling, Magda Duraj, Patrick Brückner, und mir, Per Busch. Weitere Mitmacher*innen sind willkommen. Wir bieten eine sinnvolle Aufgabe, eine Herausforderung und ein erstrebenswertes Ziel! Welche Aufgaben in nächster Zeit anstehen, ergibt sich z.B. aus dieser inzwischen beendeten Stellenausschreibung.
Momentan gehört das Projekt noch zum Sozialunternehmen Bathildisheim e.V., soll aber während der Modellprojektphase in eine eigenständige Form überführt werden. Spätestens dann wird es auch eine eigene Website geben. Bis dahin stehen alle Infos erstmal hier auf dubistblind.de.
Was motiviert mich?
2015 erfuhr ich zum ersten Mal von Fernassistenz. Ich wurde jedes Mal neidisch, wenn ich las, was blinde Menschen in englischsprachigen Ländern mit solch einem professionellen Service plötzlich alles machen konnten und wie begeistert die davon waren. Das wollte ich auch haben! Ich selbst habe keinerlei finanzielles Interesse und arbeite als Freiwilliger im Projekt mit. Ich möchte den Service später einmal selber nutzen können.
Visuelle Unterstützung auf Abruf
Alle blinden Menschen kennen das: Man ist gerade voller Tatendrang, aber wegen einer Kleinigkeit kommt man alleine nicht weiter und keiner ist da, um kurz zu helfen. Ähnliche Probleme haben auch anderweitig eingeschränkte Menschen. Mit Fernassistenz kann man viele Dinge zu seinen eigenen Bedingungen erledigen und zu seiner eigenen Zeit.
Viele kennen bereits die App von Be My Eyes mit der blinde Menschen zufällig zugeteilte Freiwillige durch die Kamera ihres Smartphones gucken lassen können, um schnell und unkompliziert sehende Hilfe zu bekommen. In englischsprachigen Ländern gibt es seit einigen Jahren auch den kommerziellen Service von Aira, bei dem man mit gut ausgebildeten, vertrauenswürdigen Assistent*innen verbunden wird. Leider hat Aira nicht vor, den Dienst auch in Deutschland anzubieten. Daher haben wir das Fernassistenzprojekt gegründet.
Wie funktioniert professionelle Fernassistenz?
Um zu verstehen, wie blinde und sehbehinderte Menschen Fernassistenz nutzen, muss man verstehen, wie die Technologie und der Service von Aira funktionieren. Ausführliche Informationen dazu gibt es auf der Aira-Spezialseite.
Was ist Aira?
- Ein visueller Dolmetsch- und Informationszugangsdienst.
- Ein Werkzeug, um digitale Barrieren im Internet und auf dem Computer überwinden zu können.
- Ein Werkzeug, um Unterstützung bei der Mobilität in unbekannter oder schwieriger Umgebung zu erhalten.
- Ein Werkzeug, um den Umgang mit Fotos und Bildern barrierefrei zu machen.
- ein neuartiges Hilfsmittel, das seinen Nutzern mehr Unabhängigkeit, Flexibilität, Effizienz und Selbstwirksamkeit ermöglicht.
- Ein nach Minuten abgerechneter Service, der Menschen mit Menschen verbindet.
- Ein kleines Stück Sicherheit in der Tasche.
Der Zugang zu Informationen ist ein Recht, kein Privileg.
Das sollte auch für visuelle Informationen gelten.
Aira nennt seinen Service „visual interpreting“,also visuelles Dolmetschen, und setzt sich aktuell dafür ein, diese neuartige Form der Assistenzleistung in den USA genau wie das Recht auf Gebärdensprachdolmetschen und Video-Telekommunikationsdienste offiziell anerkennen zu lassen. Eine ähnliche Vorgehensweise wäre auch für Deutschland denkbar.
Anwendungsbeispiele
Es gibt zahlreiche interessante, teilweise sehr berührende Erfahrungsberichte von Aira-Nutzer*innen. 260 davon habe ich aus dem Englischen übersetzt und thematisch sortiert:
- Digitale Barrieren im Internet und auf dem Computer überwinden (38 Beiträge).
- Unabhängiger sein von Freunden, Familie, Nachbarn, Kollegen und zufälligen Fremden (38 Beiträge).
- Orientierung und Mobilität in unbekannter/schwieriger Umgebung (42 Beiträge).
- Fernassistenz hilft gegen Ängste beim allein unterwegs sein (15 Beiträge).
- Reisen und alleine sein an fremden Orten (12 Beiträge).
- Sehr private oder unangenehme Aufgaben erledigen (12 Beiträge).
- Kulturelles, Kinder, Kochen, Ausflüge, Beschreiben, Vorlesen, Low Vision und mehr (28 Beiträge).
- Fotos machen, bearbeiten, betiteln und beschreiben lassen (20 Beiträge).
- Dinge zusammenbauen, verstehen, einstellen, bedienen und finden (22 Beiträge).
- Fernassistenz mit persönlichen Profilordnern effizienter machen (12 Beiträge).
- Besser aussehen mit Fernassistenz (14 Beiträge).
- Fernassistenz als Arbeitsassistenz in Ausbildung, Studium und Beruf (14 Beiträge).
Digitale Barrierefreiheit
Auch sehende Menschen lassen sich bei Computerproblemen oft mittels TeamViewer-Fernzugriff von anderen helfen. Viele Menschen leben aber vereinsamt oder haben niemand Vertrauenswürdigen, den sie um Hilfe bitten könnten. Jemand auf sein Computersystem zu lassen, erfordert viel Vertrauen. Man möchte vielleicht auch nicht, dass Familienangehörige, Freunde, Nachbarn oder zufällige Fremde so intime Einblicke in die eigene Privatsphäre bekommen. Auch die potentiellen Helfer wollen das oft nicht. Vielen ist so etwas unangenehm.
Auch die Nutzung von technischen Produkten, digitalen Dienstleistungen und Selbstbedienungsterminals ist für viele sehende Menschen oft zu kompliziert. Sie benötigen dabei Unterstützung und Erklärungen in leicht verständlicher Sprache. Ab 2025 gilt zwar das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, aber viele Hersteller und Anbieter werden es leider auch dann nicht schaffen, ihre Produkte für alle barrierefrei zugänglich zu machen.
Eines der Ziele unseres Projekts ist, auch in solchen Situationen Hilfe anbieten zu können. Wir wollen allen Menschen Zugang zu gut ausgebildeten, vertrauenswürdigen Fernassistenzkräften ermöglichen und so dazu beitragen, Probleme zu lösen. Unserer Meinung nach sollte ein Fernassistenzservice gemeinnützig und nicht kommerziell orientiert sein und von ganz verschiedenen Personengruppen genutzt werden können.
Fernassistenz als Beruf
Assistenz heißt, jemand nach dessen Anweisungen zu unterstützen. Blinde Menschen nutzen beispielsweise bereits Arbeitsassistenz, Studienassistenz, Elternassistenz und Freizeitassistenz. Fernassistenz stellt eine völlig neue Möglichkeit dar. Sie kann immer dann eingesetzt werden, wenn die reale Anwesenheit eines anderen Menschen nicht notwendig ist.
Normalerweise müssen Assistenzkräfte an- und abreisen und dauerhaft anwesend sein, auch wenn sie gerade nicht gebraucht werden. Bei Fernassistenz entfällt das. Die professionelle Fernassistenzkraft kann effektiv verschiedene Menschen direkt hintereinander unterstützen. Sie kann barrierefrei von Zuhause aus arbeiten oder an jedem beliebigen Ort der Welt.
Fernassistenz eröffnet ganz neue Arbeitsplatzmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung, sowohl für Assistenznehmer als auch für Assistenzgeber. Sie schafft barrierefreie Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit physischen, psychischen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Viele Menschen haben eine Behinderung, können aber sehen, verstehen und gut mit Computern umgehen. Eine körperliche Einschränkung, chronische Krankheit oder Angststörung macht es vielen schwer, ihr Zuhause zu verlassen. Manche können sich vielleicht aber gerade deshalb besonders gut in die Situation anderweitig eingeschränkter Personen versetzen. Daraus könnte sich eine Win-win-Situation ergeben.
Fernassistenz ist ein wertvolles Hilfsmittel für blinde und sehbehinderte Menschen, könnte aber auch für Senioren, Menschen mit Lernschwierigkeiten, schlechten Deutschkenntnissen, Orientierungsproblemen, beginnender Demenz, erhöhtem Sicherheitsbedürfnis oder ungenügenden Computerkenntnissen hilfreich sein. Über eine Plattform könnten spezialisierte Fernassistenzkräfte in der Zukunft beispielsweise auch als virtuelle Arbeitsplatzassistenten, Office-Experten, Mobilitätsunterstützer, Einkaufshelfer, Sicherheitsbegleiter, Dolmetscher, Pädagogen und Digital Coaches gebucht werden. daraus ergeben sich ganz neue Möglichkeiten.
Die Arbeit als Fernassistent*in ist sinnvoll, sozial und erfüllend und findet im barrierefreien Home Office statt. Dabei hat man ständig mit Leuten zu tun, die sich freuen, Unterstützung bei der Lösung ihrer alltäglichen Probleme zu bekommen.
Menschen helfen Menschen aus der Ferne,
Barrieren zu überwinden und Probleme zu lösen.
Welche Vorteile bietet Fernassistenz?
Die Nutzer*innen bestimmen, welche Hilfe sie brauchen und wann sie sie brauchen. Mit Fernassistenz muss man nicht mehr warten. Wenn man eine Aufgabe erledigen will oder Informationen benötigt, bei denen man auf die Augen oder den Sachverstand von anderen angewiesen ist, verbindet man sich einfach mit einer Assistenzkraft und kann tun, was zu tun ist.
Professionelle Fernassistenz eröffnet völlig neue Möglichkeiten. Blinde und sehbehinderte Menschen können damit beispielsweise auf eine ganz neue Art und Weise mit der Welt interagieren. Sie bekommen visuelle Informationen auf Abruf, die ansonsten nicht zugänglich wären. Fernassistenz hilft, Barrieren abzubauen, Abhängigkeiten zu verringern und Ziele zu erreichen. Man kann die Dinge zu seinen eigenen Bedingungen erledigen und zu seiner eigenen Zeit.
Mitmacher*innen gesucht, Rückenwind erhofft
Ich freue mich über Feedback, Hinweise, Kritik, Verbesserungsvorschläge und neue Ideen. Wir suchen Interessierte, die sich mit uns zusammen engagieren, uns diesbezüglich beraten oder anderweitig unterstützen möchten.
Erreichbar bin ich unter 0561 8554552 oder perbuschmobil @ t-online.de und Per.Busch @ bathildisheim.de auf cc (bitte die Leerzeichen vor und nach dem @ entfernen).
** geschrieben und zusammengestellt von Per Busch, zuerst veröffentlicht im Mai 2022, seitdem gelegentlich überarbeitet **