Selbsthilfe 2.0

Wie mein Traum von blind bedienbaren Mobilgeräten wahr wurde und was ich selber dafür tat:

Nachdem ich 1993 im Alter von 24 Jahren erblindete, empfand ich es als am schlimmsten, mich nicht mehr frei und unabhängig in der Welt bewegen zu können. Als ich 1996 dann zum ersten Mal über die künftigen Möglichkeiten von GPS für jedermann las, fing ich an zu träumen. Ich träumte von einem Gerät mit Sprachausgabe, mit dem ich die GPS-Koordinaten wichtiger Stellen speichern könnte, um diese dann für die Orientierung zu benutzen. Damit könnte ich mich wieder alleine in der Natur bewegen und hätte ein tolles Hilfsmittel für die Mobilität in der Stadt. Ich wüsste immer, welche meiner selbsterstellten Punkte wie weit entfernt und in welcher Richtung wären. Ich wüsste also immer ungefähr, wo ich gerade bin.

Ich befand mich seit einigen Monaten in einer schweren Krise, als ich im Januar 2007 das gerade gegründete Loadstone-Projekt entdeckte, in dem 4 blinde Programmierer aus verschiedenen Teilen der Welt gemeinsam eine Navigationssoftware für Mobiltelefone von Nokia entwickelten. Diese Nokias, Vorgänger der heutigen Smartphones, waren damals bei blinden Menschen weit verbreitet, weil sie mittels einer sogenannten Screenreader-Software mit Sprachausgabe blind bedienbar waren. Ich war begeistert! Mein Traum von satelliten-gestützter Navigation wurde plötzlich Wirklichkeit. Meine Krise war erstmal vorbei.

Zu diesem Zeitpunkt war die Benutzung von Loadstone-GPS für viele Leute aber noch zu kompliziert. Ich wollte mithelfen, dies zu ändern, konnte aber nicht programmieren und kannte mich auch kaum mit digitalen Technologien aus. Also begann ich, weltweit andere blinde Menschen über das Projekt zu informieren und ganz allgemein Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, um so Unterstützer und Sponsoren für die Programmierer zu gewinnen.

Dafür musste ich zuerst einmal mein fast vergessenes und nie benutztes Schul-Englisch reaktivieren, was mir wirklich sehr schwer fiel. Vor allem, weil ich mir die englischsprachigen Texte von einer Sprachausgabe mit deutscher Aussprache vorlesen ließ. In den nächsten 4 Jahren lernte ich viel dazu. Ich wurde Wikipedianer und Gelegenheitsjournalist, fuhr auf Fachveranstaltungen, kontaktierte Medien, Firmen, Entwickler, Wissenschaftler und Institutionen, schrieb Blogkommentare und benutzte Mailinglisten sowie später auch Twitter.

Als Google im November 2007 die Entwicklung des Betriebssystems Android ankündigte, erweiterte ich meine private Consumer-to-Business PR-Kampagne. Zu diesem Zeitpunkt kostete eine ScreenreaderSoftware für die Nokiatelefone um die 300 Euro, was für viele blinde Menschen weltweit eine große finanzielle Hürde darstellte. Ich startete die Open-Letter-Initiative, mit der ich dafür warb, in Android von Anfang an eine Screenreader-Software zu integrieren, so dass die Mobilgeräte auch von blinden Menschen bedient werden könnten.

Ich überarbeitete den Text dieses offenen Briefs kontinuierlich, fügte neue Argumente und Informationen hinzu und sorgte dafür, ihn immer wieder bei Entscheidungsträgern und Multiplikatoren bekanntzumachen. Dabei bin ich wahrscheinlich auch mal etwas über das Ziel hinausgeschossen. Ich wollte einfach nur möglichst viele relevante Leute dazu bringen, sich wenigstens einmal ganz kurz mit dem Themenkomplex zu befassen. Es sollte später niemand behaupten können, noch nie etwas von den Chancen gehört zu haben, die sich für blinde und sehbehinderte Menschen weltweit durch bezahlbare und barrierefrei bedienbare Mobilgeräte eröffnen könnten. Im Januar 2009 kündigte Google dann das Eyes-Free-Projekt an, in dem seitdem unter anderem der kostenlose Screenreader Talkback entwickelt wird.

Die Überraschung war groß, als Googles Konkurent Apple im Juni 2009 bei der Vorstellung des iPhone 3GS bekannt gab, dass künftig ein Screenreader im Betriebssystem integriert sei. Niemand hatte damit gerechnet. Heute ist das iPhone bei blinden und sehbehinderten Menschen überall auf der Welt extrem beliebt, zumindestens bei all jenen, die sich eines leisten können.

Nachdem ich 2011 die iPhone-App Ariadne GPS fand, ging mein Traum von 1996 endgültig in Erfüllung. Mit Hilfe dieser einfachen App auf meinem iPhone habe ich mir über 30 Kilometer Wanderwege in Habichtswald zugänglich gemacht. Dort bin ich seitdem täglich mehrere Stunden unterwegs, früher mit meiner Hündin Peggy, heute alleine. Dabei begegne ich anderen Menschen auf gleicher Augenhöhe, fühle mich frei & entspannt. Eine enorme Verbesserung meiner Lebensqualität! Ohne satellitenbasierte Navigation und ein blind bedienbares Mobilgerät wäre das nicht möglich.

Im Juni 2012 stellte Apple-Chef Tim Cook während seiner Keynote zu Beginn der WWDC-Entwicklerkonferenz ein Video vor, in dem ich kurz über meine neue Freiheit im Wald spreche und mich bei dem Programmierer von Ariadne GPS bedanke. Peggy und ich sind ganz am Anfang und ganz am Ende des kurzen Films zu sehen. Und ich bin heute noch immer stolz wie Bolle. :-) Etwas peinlich ist mir allerdings, dass manche Menschen bei der letzten Szene des Films wohl angeblich feuchte Augen bekommen haben.

WWDC-Video: „Thank you for giving me my freedom back!“ (YouTube)

Meine Artikel für Heise Online (anwaltschaftlicher Journalismus)

Wikis

Als Heimat für meine Open-Letter-Initiative startete ich 2008 ein erstaunlicherweise immer noch existierendes Blind Wiki (damals noch bei Wikia, heute Fandom). Einen Überblick über meine damaligen Aktivitäten gibt es auf meiner dortigen Benutzer-Seite, genau wie beim offenen Brief in einem grottenschlechten Englisch. :-)

Beiträge meines englischsprachigen Twitter-Accounts @PerBusch von 2008 bis 2009, sortiert in verschiedene Rubriken: Mobile Accessibility Blog

Meine Benutzerseiten bei Wikipedia, ebenfalls seit langem verwaist:
Benutzer Lalü (deutschsprachige Wikipedia)
User Lalue (englischsprachige Wikipedia)

Advocating for Android Accessibility

Irgendjemand hat das Archiv von Googles allererster Mailingliste für Android-Entwickler wiederhergestellt. Dort lasen damals sehr viele relevante Personen mit. Hier sind 2 meiner Beiträge:

Android could make life for blind people easier (November 2007)
Don’t be evil, be accessible. Don’t exclude disabled people (März 2008)
„Don’t be evil“, also „Sei nicht böse“, war damals das inoffizielle Firmenmotto von Google. ;-)